25 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe – eine Bilanz

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Veröffentlicht: 21:10, 26. Apr. 2011 (CEST)
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26.04.2011 – Heute vor 25 Jahren, am 26. April 1986, kam es im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl zur bisher größten Katastrophe in einem Kernkraftwerk. In der Ukraine und weltweit wird heute der Toten der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gedacht. Die Überlebenden der Katastrophe leben heute in Slawutytsch. Die Stadt Prypjat, in der die meisten der damals in dem Kernkraftwerk Tschernobyl lebenden Arbeiter und Angestellten wohnten, ist heute eine unbewohnbare Geisterstadt. Noch heute ist die ehemalige Plattenbausiedlung radioaktiv verseucht. 30 Stunden nach dem Super-GAU begann damals die Evakuierung der Stadt. Eine radioaktive Wolke breitete sich, von dem havarierten Kraftwerk ausgehend, über große Teile Europas aus (Animation).

Knapp 25 Jahre danach wird die Welt erneut Augenzeuge eines katastrophalen Unfalls in einem Kernkraftwerk. Dieses Mal trifft es das Kernkraftwerk Fukushima I auf der japanischen Hauptinsel Honshū. Beide Ereignisse werden inzwischen als „katastrophaler Störfall“ bezeichnet. Auf der internationalen Bewertungsskala (INES) wurden beide Störfälle in die Stufe 7 (Katastrophaler Unfall) eingeordnet.

Die Opfer von Tschernobyl und die Folgen

Reaktor 4 des Katastrophenreaktors von Tschernobyl (Foto: 2006, mit Sarkophag)

Die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl waren verheerend. Um den Reaktor wurde eine Sperrzone von 30 Kilometern Durchmesser errichtet. 100.000 Menschen wurden evakuiert. Je nach Berechnungsmethode schwanken die Angaben über die Anzahl der Toten zwischen 10.000 und mehr als 100.000 Todesopfern. Durch unmittelbare Strahleneinwirkung starben laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2005 vermutlich nur 50 Personen. Viele starben erst in den Monaten danach, einige auch erst in den letzten Jahren. Die Friedensorganisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) geht davon aus, dass politische Interessen dafür verantwortlich sind, dass das ganze Ausmaß der durch die radioaktive Strahlung verletzten und getöteten Menschen nicht methodisch sauber darzustellen ist, weil die Staaten, die Kernkraftwerke betreiben „kein Interesse an einer umfassenden und öffentlich überprüfbaren Erforschung der Tschernobyl-Folgen“ haben. Die IPPNW geht davon aus, dass mit „540.000 bis 900.000 Invaliden“ aus der Gruppe der sogenannten Liquidatoren zu rechnen ist. Dabei handelte es sich meist um Soldaten, die damals von der sowjetischen Regierung zwangsverpflichtet wurden, um die riesige Schutthalde des havarierten Kernkraftwerks aufzuräumen. Die IPPNW geht unter Berufung auf Edmund Lengfelder, der dieses Thema intensiv bearbeitete, davon aus, dass 50.000 bis 100.000 von ihnen bis 2006 an den Folgen der radioaktiven Strahlung starben, der sie bei ihrer Arbeit ausgesetzt waren. Diese Gruppe erkrankt laut IPPNW „überdurchschnittlich an verschiedenen Krebserkrankungen, an Leukämie, an somatischen und psychischen Erkrankungen, ein sehr hoher Anteil hat Katarakte“.

Berechnungen gehen außerdem davon aus, dass in Europa rund 600 Millionen Menschen damals gesundheitliche Schädigungen durch die ausgetretene Radioaktivität davontrugen. In mehreren europäischen Ländern trat nach Tschernobyl eine erhöhte Säuglingssterblichkeit in einer Größenordnung von 5.000 Säuglingen auf.[1] Hinzu kamen genetische Fehlbildungen. Allein in Bayern nahm die Zahl der Fehlbildungen signifikant um 1.000 bis 3.000 Fälle zu. Die IPPNW befürchten mindestens 10.000 schwerwiegende Fehlbildungen durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit einer unbekannten Dunkelziffer – bedingt durch Abtreibungen. Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs sind in Weißrussland nach Tschernobyl signifikant angestiegen: laut einer WHO-Prognose rund 100.000 Fälle insgesamt, die im Laufe ihres Lebens in der betroffenen Region in Weißrussland erkrankten oder noch erkranken werden. Auch andere Krebserkrankungen nahmen stark zu. Selbst in bestimmten Gebieten Schwedens, die von der radioaktiven Wolke betroffen waren, kam es laut IPPNW bis 1996 zu 849 zusätzlichen Krebserkrankungen. Laut UNSCEAR und WHO ist mit 28.000 bis 69.000 Krebs- und Leukämietoten infolge der durch die radioaktive Wolke von Tschernobyl freigesetzten Strahlung weltweit zu rechnen.

190 Tonnen radioaktives Material sollen immer noch in den Überresten des Reaktorblocks 4 lagern – 1986 abgedeckt durch einen so genannten Sarkophag, einen Schutzmantel aus Stahlbeton. „Nach unseren Berechnungen befinden sich 2000 Kilo Uran 235 und 480 Kilo Plutonium 238 in Block 4“, sagte Michail Umanetz, Direktor des Tschernobyl-Komplexes zwischen 1987 und 2002. Der längst brüchig gewordene Sarkophag über Reaktorblock 4 sollte schon lange erneuert werden. Die Pläne dazu gibt es. Die ukrainische Regierung bemüht sich zurzeit, die Geldmittel dafür aufzubringen – auch durch Spendengelder der Europäischen Union. 1,6 Milliarden Euro soll der neue Sarkophag kosten. Eine halbe Milliarde Euro will die Europäische Union dazugeben. Die Finanzierung der Gesamtsumme ist damit noch nicht gesichert.

Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima auf die internationale Politik

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat international zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Nach dem Reaktorunfall in Japan wurde die Diskussion über die Kernenergie in mehreren Ländern neu belebt. In der inzwischen selbstständig gewordenen Ukraine selbst, wo sich der Super-GAU ereignete, und ebenso in Russland und Weißrussland steht die Kernenergie nach wie vor hoch im Kurs. In der Ukraine gibt es jetzt 15 Kernkraftwerke mit einer Leistung von 13,8 Gigawatt (GW).[2]. Bis zum Jahr 2030 soll die Zahl der Reaktoren in der Ukraine fast verdreifacht werden.[3] In Russland ist im gleichen Zeitraum die Inbetiebnahme 26 weiterer Kernreaktoren geplant. In Weißrussland soll mit russischer Unterstützung bis 2017/18 ein erstes Kernkraftwerk gebaut werden.

In Europa gibt es aber auch mehrere Länder, die der Kernenergie zunehmend skeptisch gegenüber stehen. Italien hat weitere Pläne zum Ausbau der Kernenergie vorerst gestoppt. In der Schweiz, in der fünf Kernkraftwerke am Netz sind, läuft eine Sicherheitsprüfung, bevor Pläne zum Bau neuer Kernkraftwerke weiterverfolgt werden. In Österreich hat der Verzicht auf Atomkraft Verfassungsrang. In Belgien wurde 2003 beschlossen, ab dem Jahr 2013 mit dem Ausstieg aus der Kernenergie zu beginnen. 55 Prozent des Stroms kommt hier aus Kernkraftwerken. Griechenland besitzt keine Kernkraftwerke. Nach dem GAU in Japan beschloss die Regierung, auf Kernenergie zu verzichten. In Tschechien wird die Kernenergie prinzipiell nicht in Frage gestellt. Der Bau des umstrittenen Kernkraftwerks in Temelín soll auch nach Fukushima weiterverfolgt werden. Ähnlich ist die Situation in der Slowakei. Eine Laufzeitverlängerung für ältere Kernkraftwerksblöcke ist in der Diskussion. Ungebrochen positiv ist die Haltung Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Spaniens zur Kernenergie. Weitere Kernkraftwerke sind in Planung. In Europa liegt Frankreich mit 59 Kernkraftwerken auf Platz 1 der Länder, die die Kernenergie nutzen. 75 Prozent des Energiebedarfs wird in Frankreich aus Kernenergie gedeckt.

Außerhalb Europas wird die Nutzung der Kernenergie nicht oder kaum problematisiert. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben mit 104 Kernkraftwerken und einer Nennleistung von 104,8 GW die meisten KKWs in Betrieb. In Südamerika plant Brasilien weitere Kernkraftwerke. Zurzeit sind hier zwei Kernkraftwerke in Betrieb. Hier kommt jedoch mehr als die Hälfte des Energieaufkommens aus Wasserkraft. In Afrika verfügt Südafrika als einziges Land über Kernkraftwerke (2). Die Kernenergie ist hier aber kein politisches Diskussionsthema.

In Asien betreiben mehrere Länder Kernkraftwerke. In der Reihenfolge nach Anzahl der am Netz befindlichen Kernkraftwerke: Auf Platz 1 liegt Japan mit 54 Kernkraftwerken, die Republik Südkorea mit 20, Indien (18), China mit 11 Kernkraftwerken (hier sind bereits 27 weitere Kernkraftwerke im Bau), Taiwan (6) und Pakistan 2 Kernkraftwerke. Der Iran treibt sein Programm zur Nutzung der Kernenergie ebenfalls voran. Die internationale Staatengemeinschaft betrachtet das Vorhaben allerdings kritisch wegen der Befürchtung, der Iran könnte das Programm zur Herstellung von Atomwaffen verwenden (siehe dazu das Portal:Iranisches Atomprogramm).

Ausbreitung von Radioaktivität nach dem Reaktorunfall von Fukushima I

In Japan gab es auch nach dem Reaktorunglück von Fukushima keine breite öffentliche Diskussion über die Nutzung der Kernenergie. Proteste gegen die Kernenergie finden keine massenhafte Unterstützung. Ungewöhnlich für japanische Verhältnisse ist dabei schon der Protest von 200 Bauern, die am heutigen Tage vor dem Hauptquartier des japanischen Kernkraftwerksbetreibers TEPCO demonstrierten.

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stagnierte der weitere Ausbau kerntechnischer Anlagen zur Energiegewinnung zunächst einige Jahre. Inzwischen erlebte diese Energietechnik jedoch wieder einen Aufschwung. Der Ausbau der Kernenergietechnik wird sich in den nächsten Jahren sogar noch beschleunigen. Insgesamt waren 2010 nach Angaben der Seite kernenergie.de (einem Informationsportal der deutschen Kernenergie-Industrie) 443 Kernkraftwerksblöcke in 30 Ländern mit einer installierten Leistung von 396 GW in Betrieb. Im Bau sind weltweit 62 Kernkraftwerke in 15 Ländern.

Situation in Deutschland

Atomkraftwerke in Deutschland

Die Situation in Deutschland ist insofern eine besondere, als es hier nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eine breite Massenmobilisierung gegen die Kernenergie gegeben hat. Auch die Partei der Grünen gründete sich im Zusammenhang mit dem Protest gegen die Kernenergienutzung in Deutschland, wodurch die Parteienlandschaft in Deutschland nachhaltig geprägt wurde. Eine Folge des GAUs in Tschernobyl war die Gründung eines deutschen Bundesumweltministeriums. Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ging in Deutschland kein weiteres Kernkraftwerk ans Netz. Getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens verhandelte die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und dem grünen Umweltminister Jürgen Trittin mit der Energiewirtschaft in Deutschland einen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2025. Im Herbst 2010 beschloss jedoch die Regierungskoalition Merkel, bestehend aus CDU/CSU und FDP, eine Laufzeitverlängerung für ältere Atommeiler in Deutschland. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima setzte in Deutschland vor allem in den Parteien der Regierungskoalition ein Umdenken bezüglich der Nutzung der Kernenergie ein. Die Diskussion über den Zeitplan für einen Ausstieg aus der Kernenergie bestimmt die politische Tagesordnung in Deutschland.

Weltmarkt

Auch ohne eine Abkehr von der Atomenergie, die von einigen Staaten verfolgt wird, steigt weltweit die Nachfrage nach Steinkohle als Brennstoff für die Stromerzeugung. Dabei geht die Nachfrage zum Teil von Japan aus, wo nach dem Erdbeben und Tsunami vom 11. März elf Kernkraftwerke geschlossen werden mussten. Unabhängig von der aktuellen Situation führte Japan auch in den letzten Jahren bereits rund 180 Millionen Tonnen Kohle jährlich ein. Die „Energy Information Administration“ der Vereinigten Staaten geht davon aus, dass der internationale Kohlehandel bis 2030 um 44 Prozent zunehmen wird. Die wirtschaftliche Entwicklung Chinas ist in diesem Zusammenhang ein starker Nachfragefaktor.

Wegen der wegfallenden Nachfrage nach Uran in Japan nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima fielen zunächst die Kurse für Uran. Nach diesem kurzfristigen Kurseinbruch bei Uran erwarten Beobachter langfristig ein weiter steigendes Kursniveau durch anhaltende Nachfrage für den wichtigsten Brennstoff der Kernenergieindustrie.

In der Wikipedia gibt es den weiterführenden Artikel „Katastrophe von Tschernobyl“.

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Quellen

Fußnoten

  1. IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl (April 2006)
  2. energie.ch: Tabelle „Kernkraftwerke in der Welt“
  3. tagesschau.sf: „Kernkraft weltweit: Von ‚nie wieder‘ bis ‚ja bitte‘“ (26.04.2011)