Zum Inhalt springen

Europäischer Haftbefehl vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt

aus Wikinews, einem freien Wiki für Nachrichten
Artikelstatus: Fertig
Bitte keine weiteren inhaltlichen Veränderungen vornehmen, sondern einen Folgeartikel schreiben.

Karlsruhe (Deutschland), 18.07.2005 – Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat heute die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes in Deutschland für nichtig erklärt. Wesentliche Teile des deutschen Ausführungsgesetzes hielt das Gericht für nicht verfassungskonform.

Der Deutsch-Syrer Mamoun Darkazanli, der seit dem 15. Oktober 2004 in Auslieferungshaft sitzt, muss als Folge des Urteils aus der Haft entlassen werden. Er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen von Madrid beteiligt gewesen zu sein. Außerdem hat das Amtsgericht Madrid in dem Haftbefehl vom 16. September 2004 dem Beschwerdeführer vorgeworfen, „eine Schlüsselfigur im europäischen Teil des Terrornetzwerkes Al-Qaida zu sein.“ In dieser Funktion „soll er das Netzwerk im Bereich der Finanzen und der Kontaktpflege zwischen seinen Mitgliedern unterstützt haben.“ (Aus der Pressemitteilung des BVerfG vom 24.02.2005)

Mit dem Richterspruch können ab sofort keine Auslieferungsersuchen von EU-Staaten von deutschen Gerichten mehr bewilligt und Personen für Verbrechen, die diese im Ausland begangen haben, nicht mehr in diesen Ländern zur Rechenschaft gezogen werden. Dies gilt bis ein neues Ausführungsgesetz zur Umsetzung des so genannten Europäischen Haftbefehls verabschiedet ist, das die in dem Urteil gestellten Kriterien erfüllt. Das vom EU-Parlament erlassene Gesetz selbst steht nach Auffassung der Richter nicht im Widerspruch zum deutschen Grundgesetz. Nach Aussagen der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung im April waren bisher neunzehn Deutsche an EU-Staaten im Rahmen solcher Auslieferungsverfahren überstellt worden.

Das Urteil

Durch das Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236/04 – wird das „Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG)“ für nichtig erklärt. Solange der Gesetzgeber (in diesem Falle also der Deutsche Bundestag) kein neues Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG erlasse, sei die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen daher nicht möglich. Der Beschluss des Oberlandesgerichts, das den Deutsch-Syrer in Untersuchungshaft genommen hatte und die Bewilligungsentscheidung der Justizbehörde wurden aufgehoben.

Auszüge aus der Urteilsbegründung

  1. Die vom Bundestag beschlossene Umsetzung des europäischen Haftbefehls schränkt das Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit unverhältnismäßig ein. Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begeht, müsse grundsätzlich nicht mit einer Auslieferung an ein anderes Land rechnen, es sei denn, der Tatverdacht hätte einen maßgeblichen Auslandsbezug. Für solche Straftaten mit maßgeblichen Inlandsbezug hätte das Ausführungsgesetz die Möglichkeit vorsehen müssen, das Auslieferungsersuchen zu verweigern.
  2. Der durch das Gesetz vorgesehene Ausschluss des Rechtsweges verstößt gegen die im Grundgesetz garantierte Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG)

Abweichende Richtervoten

Die Richter Broß und Gerhard und die Richterin Lübbe-Wolff haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.

Richter Broß teilt zwar das Urteil, nicht jedoch die Urteilsbegründung. Er ist der Ansicht, das Europäische Haftbefehlsgesetz sei bereits deshalb nichtig, weil es nicht dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 1GG) Rechnung trage. Nach diesem Rechtsprinzip werden Entscheidungen möglichst auf die niedrigste mögliche Ebene (z.B. die europäischen Staaten) verlagert, diese habe gegenüber der höheren Ebene (z.B. der Europäischen Union) Vorrang. Erst wenn die kleineren Ebenen mit einem Thema überfordert seien, sollten die übergeordneten Ebenen (subsidiär) eingreifen. Das Subsidiaritätsprinzip gilt auch als regelndes Prinzip in Europa, um die Rolle der der EU-Organe gegenüber der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Ebene zu beschränken.

Richterin Lübbe-Wolff weicht ebenfalls hinsichtlich der Begründung des Urteils von der Mehrheit des Senats ab. Nach ihrer Ansicht hätte es genügt, wenn das Gericht für bestimmte Einzelfälle, konkret: Auslieferungsverfahren, bestimmte Regeln erlassen hätte, die die Anwendung des Gesetzes solange aussetzt bis eine verfassungskonforme Neuregelung vorliegt. Mit der jetzigen Entscheidung würden jedoch auch verfassungsrechtlich völlig unproblematische Fälle betroffen, z.B. die Auslieferung von Staatsangehörigen, die Straftaten in den antragstellenden Ländern begangen hätten. Die Bundesrepublik Deutschland werde durch das Urteil des BVerfG gezwungen, gegen EU-Recht zu verstoßen.

Richter Gerhardt weicht vom Mehrheitsvotum auch insofern ab, als er das Urteil insgesamt in Frage stellt. Seiner Ansicht nach hätte die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen werden müssen. Mit dem Urteil würde EU-Recht gebrochen. Der Senat setze sich auch in Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Pupino-Urteil vom 16. Juni 2005), das den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten hervorgehoben habe. Das im Urteil kritisierte Fehlen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sei zwar im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt, es bestehe jedoch kein Grund anzunehmen, dass Behörden und Gerichte ihre Pflicht zur Beachtung dieses Gebots missachteten.

Reaktionen

Bundesjustizministerin Zypries (SPD) sagte, das Karlsruher Urteil sei ein „weiterer Rückschlag für die Bundesregierung bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus.“ Sie befürchte eine weitere Bürokratisierung des Auslieferungsverfahrens. Das Bundesjustizministerium plane eine Neuauflage des Gesetzes in vier bis sechs Wochen. Der Abgeordnete der Grünen Christian Ströbele, der das Gesetz im Bundestag unterstützt hatte, sagte nach der Urteilsverkündung: „Das ist sicherlich eine Ohrfeige für den gesamten Bundestag.“

Hintergrund

Das vollständige Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kann hier eingesehen werden:

Wikisource: Texte im Original zu „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“.

Im Text erwähnte Grundgesetzartikel:

Artikel 16 [Staatsangehörigkeit - Auslieferung]

„...
(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“

Artikel 16a [Asylrecht]

„(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt.“

Artikel 19, Absatz 4 [Rechtsweggarantie]

„...
(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.“

Hintergrund

Quellen