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Mordfall Walter Lübcke: Bundesanwaltschaft ermittelt

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Veröffentlicht: 11:18, 21. Jun. 2019 (CEST)
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Die Generalbundesanwaltschaft (hier der Sitz in Karlsruhe) behandelt den Fall als politisches Attentat mit rechtsextremem Hintergrund.

Kassel / Karlsruhe / Berlin (Deutschland), 20.06.2019 – Rund zwei Wochen nach der Ermordung des Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen an sich gezogen, weil der Verdacht eines politischen Attentats mit rechtsextremem Hintergrund besteht. Der Schritt kam, als die Ermittler den 45-jährigen Stephan E. festnahmen. Der Festgenommene ist mehrfach einschlägig vorbestraft und sei dringend tatverdächtig, Lübcke heimtückisch getötet zu haben, sagte die Bundesanwaltschaft am Montag. Lübcke war am 2. Juni mit einem Kopfschuss getötet worden. Die Tat ereignete sich auf der Terrasse von Lübckes Wohnhaus. Die Ermittler waren auf E. gekommen, weil sie seine DNA auf Lübckes Kleidung gefunden hatten.

Stephan E. ist der Polizei seit den 1990er Jahren bekannt. In der Polizei-Datenbank sind im Zusammenhang mit ihm Betrug, Körperverletzung sowie Waffen- und Sprengstoffdelikte verzeichnet. Er war NPD-Mitglied, später suchte er den Kontakt zu militanteren Neonazis und stand der Kasseler Neonazi-Kameradschaft „Sturm 18“ nahe. 1993 verübte er einen Rohrbombenanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft in Steckenroth im Rheingau-Taunus-Kreis. Die Rohrbombe befand sich in einem in Brand gesetzten Auto, das allerdings von den in der Unterkunft Wohnenden gelöscht wurde, bevor die Bombe explodierte. Für diese Tat erhielt er 1995 eine Jugendstrafe von sechs Jahren ohne Bewährung.

2009 griff er in einem Pulk mit 400 „Autonomen Nationalisten“ eine Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, was ihm wegen Landfriedensbruches eine Bewährungsstrafe von sieben Monaten einbrachte. „NPD-Stephan“, wie Stephan E. in der Szene angeblich genannt wurde, wurde als Zeuge im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss in Erwägung gezogen. Man verzichtete schließlich auf seine Einvernahme, um ihm keine öffentliche Selbstdarstellung zu ermöglichen, da eine Verbindung zum Mord an Halit Yozgat nicht zu erkennen war. In NADIS, dem Nachrichtensystem der Verfassungsschutzbehörden, wurde E. nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht geführt. Wie die Zeitung schrieb, stehe er „Combat 18“ nahe, einem Neonazi-Netzwerk mit laut hessischem Verfassungsschutzbericht 2017 zumindest teilweise waffenaffinen und gewaltbereiten Mitgliedern.

Kommunalpolitiker erhielten Morddrohungen

Seit dem Mord an Lübcke gibt es vielfache politische Reaktionen. Besonders gehört wurden Politiker, die in der Vergangenheit selbst Ziel rechter Angriffe waren: Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die vor ihrer Wahl 2015 von einem Rechtsextremisten niedergestochen wurde, rief zur Wachsamkeit auf. „Denjenigen, die unsere offene und freie Gesellschaft bedrohen, muss klar sein, dass wir keinen Zentimeter zurückweichen“, sagte Reker der Deuschen Presse-Agentur. Sowohl Reker als auch Andreas Hollstein (CDU), der Bürgermeister von Altena, sind nach dem Mord an Lübcke bedroht worden.

Hollstein, der 2017 von einem fremdenfeindlichen Angreifer am Hals verletzt wurde, nannte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) einen rechtsextremistischen Politikermord „eine neue Dimension, gegen die man mit der ganzen Härte des Rechtsstaates vorgehen muss“, und forderte eine umfassende Aufklärung.

Markus Nierth, der 2015 von seinem Amt als Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt zurückgetreten war, sagte dem RND, die Nachricht von der Ermordung und der nun erfolgten Verhaftung belebe „die Erinnerungen an die eigenen angstbeladenen Wochen und Monate“. Nierth war 2015 zurückgetreten, weil Rechtsextremisten ihn wegen seines Eintretens für Asylsuchende bedroht hatten.

Unterdessen warnen Experten vor weiteren rechtsextremen Taten. Gideon Botsch, der Leiter der Forschungsstelle für Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam, glaubt: „Die nächsten 12 bis 18 Monate werden besonders gefährlich.“ Dem Tagesspiegel sagte er, es sei „wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden“. AfD und Pegida hätten Feindbilder geschaffen, „diese Kräfte, die sich offiziell von Gewalt distanzieren, haben sehr deutlich zur Hetze beigetragen“.

Eine ähnliche Aussage machte der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand aus Hessen. Der Mord sei erst durch den Hass und die Hetze der letzten Jahre ermöglicht worden. Brand zog im Deutschlandfunk „eine direkte Linie von der grenzenlosen Hetze von Höcke und Co. zu Gewalt und jetzt auch zu Mord. Wer das nicht sieht, der ist blind“, sagte der Innenpolitiker am Dienstag. Wenn nach vielen Jahren erstmals wieder ein Repräsentant des Staates ermordet werde, so müsse dagegen genauso angestrengt vorgegangen werden „wie im Kampf gegen Islamismus“.

Stephan E. ein Einzeltäter?

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke verglich in der Passauer Neuen Presse den Mord an Lübcke mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006. In der nordhessischen Stadt würden wie in Dortmund „hochgefährliche Netzwerke“ von gewaltbereiten Neonazis existieren. Im ZDF-Morgenmagazin stellte auch der Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Konstantin von Notz von Bündnis 90/Die Grünen, die Frage, „ob dahinter nicht ein Netzwerk steht“. Man könne den Behörden aber nicht mehr wie früher vorwerfen, sie seien auf dem rechten Auge blind.

Das Parlamentarische Kontrollgremium erstelle gerade einen Bericht über „mögliche rechtsextremistische Netzwerke mit Bezügen zur Bundeswehr“, sagte von Notz gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Wir sehen seit Monaten immer klarere, harte rechtsextremistische Netzwerkstrukturen, die man nach dem NSU nicht mehr für möglich gehalten hätte.“

Die AfD wies den Vorwurf zurück, durch ihre radikale Rhetorik den Nährboden für solche Verbrechen geschaffen zu haben. Nach Aussage von Christian Lüth, dem Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, habe seine Partei „mit solchen Taten nichts zu tun“, und seine Partei sehe keine Gefahr, dass der Mordanschlag den Auftakt für eine Welle des Rechtsterrorismus sein könnte.

Lübckes Tötung wurde von der rechten Szene im Internet begrüßt; Lübcke wurde verhöhnt, und es gab Aufrufe zur Ermordung weiterer Politiker. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte diese Äußerungen in sozialen Netzwerken „zynisch, geschmacklos, abscheulich, in jeder Hinsicht widerwärtig“.

Derzeit ist unklar, wieso Lübcke als Opfer ausgewählt wurde. Der Sprecher der Bundesanwaltschaft sagte, es werde geprüft ob Stephan E. Hintermänner oder Helfer gehabt hat. Für die Zugehörigkeit zu einer rechtsterroristischen Vereinigung gebe es noch keine Anhaltspunkte. Das hessische Landeskriminalamt und das Bundeskriminalamt ermitteln diesbezüglich. Ein Zeuge wies auf zwei Autos hin, die schnell vom Tatort wegfuhren und in „aggressiver Art“ gefahren seien. Eines der Fahrzeuge soll ein VW Golf Caddy gewesen sein. Ein solches Fahrzeug ist auf die Ehefrau von Stephan E. zugelassen, werde aber nur von ihm gefahren, sagte die Ehefrau bei einer Vernehmung.

Die Ehefrau gab an, dass sie am Abend der Ermordung Lübckes spät nach Hause gekommen sei. Ihr Mann sei noch nicht dagewesen, und sie wisse nicht, wo er sich an dem Abend aufhielt.

Die Ermittler entdeckten in der Wohnung von Stephan E. einen im CD-Fach eines Radios versteckten Autoschlüssel zu einem anderen Fahrzeug, einem Škoda. Dieses Auto, das Stephan E. für einen Verwandten verkaufen sollte, wurde bisher nicht gefunden.

Aufgrund der in der Wohnung von E. sichergestellten Beweise geht die inzwischen auf 60 Personen angewachsene Sonderkommission von einer präzisen Planung der Tat aus. So habe sich der Täter bewusst das Kirmeswochenende für seine Tat gewählt, um sich unauffällig in der Nachbarschaft zu Lübckes Wohnhaus aufhalten zu können. Außerdem bildete der Kirmeslärm eine Geräuschkulisse für den Schuss. Bei der Wohnungsdurchsuchung seien außer einer Schreckschusspistole keine scharfen Schusswaffen sichergestellt worden.

Der Rechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung fand heraus, dass Stephan E. in einem Schützenverein in einer Kleinstadt bei Kassel eine Funktion als „Referent“ für Bogenschießen ausübte. Der Vereinsvorsitzende Reiner Weidemann sagte demnach, E. sei im Verein nur in Kontakt mit Sportbögen gekommen, er habe E. zu keiner Zeit mit Schusswaffen gesehen. Stephan E. sei ein „netter, unauffälliger, hilfsbereiter Mann“, der sich nie politisch oder rechtsradikal geäußert habe, sagte Weidemann.


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