Israel-Tagebuch: Das Heilige Land hat ein Imageproblem

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Veröffentlicht: 22:45, 26. Jan. 2008 (CET)
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Tel Aviv (Israel), 26.01.2008 – Der Wikinews-Reporter David Shankbone war im Dezember 2007 auf Einladung der israelischen Regierung und von Freunden auf Besuch in Israel. Hier werden seine Erfahrungen aus erster Hand geschildert und können im Ergebnis möglicherweise nicht vollständig das Neutralitätsgebot auf Wikinews einhalten. Dies ist ein journalistisches Experiment auf Wikinews; konstruktive Kritik ist jederzeit willkommen.

Wartende am Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv.
Israelisches Erste-Hilfe-Schild am Flughafen.

Bei 70 Meilen pro Stunden wehte der Geruch von Alkohol in den Passagierraum des Taxis auf halbem Wege zum Kennedy Airport, als der Fahrer sich umdrehte und sagte: "Kein Verkehr - das ist gut. Schnell." Das passte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich aus dem Fenster gestarrt und an die Warnungen gedacht, die meine Familie und Freunde mir gegeben hatten. Ich solle unbedingt für meine Sicherheit sorgen in Israel. Obwohl ich eine ganze Menge gereist bin und dabei noch nie einen Ort gefunden habe, der seiner Darstellung in den amerikanischen Medien entspricht - Kuba ist kein bisschen so, wie es porträtiert wird - wogen die Ratschläge, Pizzerien und Linienbusse zu meiden, schwer auf mir. "Was auch immer du tust, David, fahr' nicht nach Gaza oder steig' in einen Bus! Geh. Nicht. Nach. Gaza." sagte meine Mutter mehrmals. "Weißt du, da drüben tobt ein Krieg. Wenn du jemanden siehst, der zu Allah betet und schwitzt - lauf!"

Bis der Taxifahrer sich umwendete und mich durch seinen Fuselatem anlächelte war mein Bewusstsein voller Gedanken an das Ende, das ich nehmen würde: Inmitten von Bewaffneten kauernd im Nachrichtensender Al-Dschasira, die mich zu Haßreden auf mein Land zwingen. Ich dachte an Gay Talese, der verrückt darauf war, in den Irak zu gehen, und mir sagte, er würde "den Mistkerlen" schon sagen, was sie ihn könnten, schließlich würde er sterben bei dem, was er am meisten liebte: bei der Arbeit an einer Story. Seltsamerweise fand ich Trost ausgerechnet in der Ablenkung durch meinen angetrunkenen Fahrer, und dachte stattdessen an Carolyn Doran, die ehemalige Wikimedia-Leiterin, die einen Feuersturm für die Foundation ausgelöst hatte, denn als sie eingestellt worden war, hatte niemand vermutet, dass sie nicht nur viermal wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss verurteilt worden war, sondern auch einen ihrer Lebenspartner niedergeschossen hatte.

Mein Flug von New York nach Tel Aviv trug alle Anzeichen einer Karikatur eines schrecklichen Fluges: Trotz meiner Bitte um einen Platz am Gang saß ich in der Mitte. Rechts von mir war eine lebensbedrohlich fettleibige Frau mit einer lila Baskenmütze, die ihr Baby stillte. Links von mir lag in einem Säuglingssitz ein weiteres Baby, und noch einen Platz weiter hielt die Mutter ein drittes auf dem Schoß. Zwei der Babys wurden schließlich in Vorrichtungen an der Wand befestigt, die aussahen wie die Flugzeugversion von Babytrampolins. Erstaunlicherweise wurde es doch einer der besseren Elf-Stunden-Flüge, die ich mitgemacht habe. Alle drei Kleinkinder verschliefen die gesamte Reise, und als ich aus einem Nickerchen aufwachte, lehnte ich gegen etwas, das sich anfühlte wie eine sich den Körperformen besonders gut anschmiegende Matratze - und sich als die fette Frau herausstellte, deren schiere Masse die Armlehne zwischen uns überwunden hatte. Es war ... nicht unangenehm.

Nach der Ankunft in unserem Hotel in Tel Aviv blieben uns exakt zehn Minuten zum duschen und umziehen, bevor wir zum Abendessen mit Dr. Yossi Vardi aufbrechen mussten, dem Vater des israelischen Erfindergeists, wie er auch bekannt ist. Jimmy Wales machte ihn mir per E-Mail bekannt, und ich hatte meine Recherchen zu diesem Mann gemacht, der das ICQ-Netzwerk gegründet und verkauft hatte. Im Bus zum Essen sprachen Stacy Perman und David Saranga darüber, wie Israel heute versucht, sich als Marke zu entwickeln. Genauer gesagt erwähnte Perman, der für Businessweek schreibt, gegenüber dem PR-Veranwortlichen des israelischen Generalkonsulats in New York eine Fotostrecke aus dem Magazin Maxim. Deren Thema waren "Die Frauen der israelischen Armee", die äußerst ansprechend fotografiert und hübsch bekleidet präsentiert wurden. Perman nahm daran Anstoß. "Die Strecke kam mir vor wie der kleinste gemeinsame Nenner. Was war der Gedanke dahinter?" fragte Stacy.

Saranga hatte keine Bedenken, in seinem nie enden wollenden Bestreben, Israel zu verkaufen, auch an die männliche Libido zu apellieren. "Sehen Sie, ich würde es auch lieben, wenn die 2,5 Millionen Leser von Maxim das Heft kauften, um über israelische Technologie und Kultur zu lesen. Aber in Wahrheit sind sie nicht so sehr daran interessiert. Als wir bei Maxim anklopften, fragten sie uns, warum sie so etwas bringen sollten. Schließlich gäbe es überall schöne Frauen. Warum also israelische schöne Frauen? Wir antworteten, dass die israelische Armee weltweit die einzige sei, in der Frauen an der Seite männlicher Soldaten tatsächlich im Kampfeinsatz seien. Also haben sie es gebracht. Nicht mit Waffen und Munition, nur die ... schönen Frauen der israelischen Armee. Als wir ausprobiert haben, ob es funktioniert, haben wir herausgefunden, dass es sehr, sehr erfolgreich war."

Worin besteht dieser Erfolg? Die Sache sei, erklärte Saranga, dass Israel ein Imageproblem habe. Saranga ist eine der Schlüsselfiguren im israelischen Außenministerium, die daran arbeiten, einen neuen Markennamen für das Heilige Land zu erschaffen. Und tatsächlich wird eines der vorgesehenen Abendessen unter dem Vorsitz Ido Aharonis stattfinden, der den Titel "Leiter des Israel-Markenmanagement-Teams" führt. Der Markenname eines Landes ist es, um das bei der Reise gehen wird. Genauer gesagt: Es geht um Rebranding.

Wenn Menschen an Israel denken, führte Saranga aus, denken sie eben an diese Dinge, an die auch meine Fraunde und Familie denken: es ist gefährlich, es ist ein Ort, an dem man in die Luft gesprengt werden kann. Es ist schwierig, in der US-Presse Geschichten über Israel zu finden, die sich abseits von Erzählungen über den palästinensisch-israelischen-libanesischen Konflikt bewegen. Das Ergebnis, so Saranga, ist, dass man nicht nach Israel kommen wolle. Es ist zu gefährlich, und selbst wenn die Sicherheit kein Problem wäre, erschiene es nicht als ein Ort, an dem man Spaß haben könnte. Laut den Umfragen, die die Regierung Israels durchgeführt hat, sehen die Leute Israel als tief religiösen Ort - es ist schließlich noch immer ein jüdischer Staat - und neben heiligen Stätten wie dem Tempelberg und dem Wandeln auf Jesus' Spuren sind säkulare amerikanische Touristen, die Aufregung und Abwechslung suchen, nicht der Meinung, dass es viel für sie zu tun gäbe.

In Wirklichkeit ist Israel eine vieldimensionale, pluralistische Gesellschaft mit einem großen arabischen Bevölkerungsanteil - von denen sich die meisten als Palästinenser sehen - in einer der stabilsten Demokratien des Nahen Ostens. Diese Reise dient hauptsächlich dazu, den Technikjournalisten das zu zeigen, was man als eines der blühendsten Innovationszentren des Globus bezeichnen kann, ganz gleich, welchen Maßstab man anlegt. Was wir jedoch nicht sehen werden, ist die arabische Seite des Landes. Als ich Saranga vorschlug, beim Markt von Jaffa vorbeizusehen, dem geschäftigen arabischen Basar Tel Avivs, blickte er mich überrascht an. "Warum sollten Sie dorthin wollen?" Als ich entgegnete, dass es eine gute Stelle sei, um nach Mitbringseln zu shoppen, sah er noch immer nicht ein, was ich dort wollte. Erst als ich erwähnte, dort biete sich gute Gelegenheit, um ein paar Fotos zu machen - ein weiterer Zweck unseres Aufenthalts - lenkte er ein: "Ja, das stimmt. Es ist farbenfroh, denke ich."

Beim Diner sprach Dr. Yossi Vardi über die Zukunft der israelischen Technologie und betonte, dass Israel gleich nach Kalifornien und Boston die größten Investitionen von Venture-Kapital überhaupt verzeichne. Nach seiner Rede wandte er sich an mich mit der Standardklage, die ich über Wikipedia zu hören bekomme: sie sei nicht immer zuverlässig und außerdem willkürlich in ihrer Entscheidung über Relevanz (speziell sprach er einen Artikel über ein von ihm finanziertes Produkt an, Fring, der fünfmal gelöscht worden war, wie er sagte, obwohl es Marktführer sei). "Wie entscheiden Sie, was relevant ist und was nicht?" fragte Vardi.

David Shankbone und David Saranga.

Das war die gleiche Frage, die mir ein Reporter von Ha'aretz stellte, als er mich später am Abend für einen Artikel über unsere Reise interviewte. Beiden gegenüber beschrieb ich den noch immer andauernden Konflikt über den Weihnachtsmann-Artikel in der englischsprachigen Wikipedia, an dem ich maßgeblich beteiligt war. Einige Autoren wollten verhindern, dass darin festgestellt würde, den Weihnachtsmann gäbe es nicht (Denkt an die Kinder!), beziehungsweise, wenn schon nicht gesagt werden könne, dass der Weihnachtsmann existiere, dass wenigstens verschwiegen werden solle, dass es sich um eine Erfindung handle. Das Problem ist jedoch, dass Wikipedia nicht dazu da ist, kulturelle Mythen zu transportieren, sondern dazu, sie zu erklären.

"Aber ich glaube an den Weihnachtsmann", antwortete Vardi. "Wer sind Sie, dass Sie sagen können, er sei nicht real?" Das ist eine Frage, die auf der Diskussionsseite des Artikels aufgeworfen worden war, und der nur schwer zu begegnen ist. Und wie auch die Pro-Weihnachtsmann-Autoren argumentierte Vardi: "Was ist mit Gott? Können Sie sagen, dass Gott nicht existiert?" Aber sind jenseits der akademischen philosophischen Diskussionen der Weihnachtsmann und Gott wirklich vergleichbar, war meine Antwort. Gott wird gewöhnlich dazu herangezogen, Aspekte der Welt um uns zu erklären, auf die wir uns keinen Reim machen können mit all unserem Wissen und unserer Technologie. Vom Weihnachtsmann wissen die Eltern, dass es ihn nicht gibt. Sie behaupten es trotzdem ihren Kindern gegenüber und spielen es ihnen vor (vor die Tür gestellte Kekse und Milch verschwinden, Weihnachtsgeschenke erscheinen, die US-Luftwaffe ortet auf ihrer Website die Position des Weihnachtsmanns). Einmal kommt der Punkt, an dem die Eltern ihren Kindern enthüllen, dass er niemals wirklich existiert hat und sie es waren, die die Kekse gegessen haben.

"Aber Wahrnehmung ist Wirklichkeit", insistierte Dr. Vardi. "Also wer sind Sie, zu urteilen? Es ist die Frage nach dem Baum, der im Wald umfällt und ob jemand es hört." Ich hielt dem entgegen, dass solche akademischen und philosophischen Höhen sich vielleicht nett bei einem Plausch beim Abendessen machten, für praktische Zwecke jedoch nutzlos seien. "Schließlich, Dr. Vardi, könnten Sie doch niemals ein technisches Problem lösen, wenn die Realität sich einfach durch den Glauben an etwas formen ließe. Sie treffen sicher ständig Leute, die zutiefst überzeugt sind, dass die Produkte, die sie entwickeln, erfolgreich sein werden. Investieren Sie auf Grundlage dieser Überzeugung? Die Frage ist doch immer, ob der umgestürzte Baum ein Geräusch macht oder nicht. Die Frage ist nie, ob er überhaupt umgestürzt ist. Das wird vorausgesetzt."

Cnaan Liphshiz, der Journalist von Ha'aretz, brachte ähnliche Besorgnisse wie vorher Dr. Vardi zum Ausdruck, wenn auch weniger philosophisch. Sind wir eine zuverlässige Informationsquelle? "Die kurze Antwort ist nein", sagte ich, und er sah mich erstaunt an. "Die Schwierigkeit an einer solchen Frage ist nicht, ob Wikipedia zuverlässig ist, sondern ob überhaupt irgendeine Quelle zuverlässige Informationen liefert. Studien zeigen laufend, dass Wikipedia zuverlässig arbeitet, was die Redaktion von vorliegenden Informationen angeht und die Präsentation als mit Quellen belegte Wahrheit. Aber haben die Quellen recht? Niemand sollte sich jemals auf eine einzige Quelle stützen. Man sollte verschiedene Quellen aufsuchen, um sich eine Meinung zu bilden. Macht Wikipedia eine bessere Arbeit, was das Aufzeigen verschiedener Meinungen betrifft, als die New York Times oder Fox News? Ja, ich glaube schon."

Die Technikjournalisten essen mit Dr. Vardi (rechts).

Meine Anwesenheit bei dieser Reiseveranstaltung, erklärte ich, werfe doch eine interessante Frage zum Web 2.0 auf. Wie hat das israelische Außenministerium entschieden, dass ich, David Shankbone, für Wikipedia und Wikinews auf diese Reise geschickt werde? 25 % der Antwort bestehen aus meiner Akkreditierung bei Wikinews und dass ich fähig bin, als Reporter als Quelle aus Erster Hand zu arbeiten. Aber 75 % ergeben sich aus meinen Beiträgen zu anderen Wikimedia-Projekten, die mich über die anderen Beitragenden herausragen ließen. Zwischen meinen Fotos und meinen Interviews habe ich prominente Projekte bei Wikipedia und den Schwesterprojekten verwirklicht. Könnten also andere gewöhnliche Leute wie ich nach Israel fliegen, wenn sie in bekannten Web 2.0-Seiten wie Wikipedia mitarbeiten? Vielleicht. Die Herausforderung an Firmen, Regierungen und Organisationen besteht heute darin, zu erkennen, welche Benutzer in der Masse der vielfältigen und manchmal bizarren Namen tatsächlich substanzielle Arbeit abliefern können. Die Antwort lautet, dass diejenigen, die zur Information in der öffentlichen Sphäre beitragen wollen, Zeit aufwenden müssen, um herauszufinden, wer im Web. 2.0 wert ist, kontaktiert zu werden, und ob diese Leute überhaupt etwas für sie tun können. Den selben Ratschlag hatte ich der PR-Agentur Rubenstein gegeben, die die Pressearbeit für das Tribeca Filmfestival macht und über die mich die Israelis gefunden haben.

Auf einer Reise wie dieser stellt sich die Frage, was die Ziele der Israelis im Zusammenhang mit Wikipedia sind. Für David Saranga geht es um eine Neuerfindung der Marke Israel. Sie wollen schlicht, dass Aspekte ihres Landes betont werden, die nicht den israelisch-palästinensischen Konflikt betreffen. Deshalb sind wir hier, um uns in einer rasenden Folge von Meetings den Technologiesektor Israels anzusehen. Wikimedia und Wikinews als einflussreiche Quellen von Informationen, die versuchen, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist, sind für sie attraktive Optionen. "Es ist eine Tatsache, dass heute so viel in Israel vor sich geht, von dem niemand etwas weiß, weil die Medien nichts schreiben, was nicht mit dem Konflikt zu tun hat", sagte Saranga. Die Gelegenheit, dass jemand von der wichtigsten Enzyklopädie im Netz das Weizmann-Institut, das Technion und ein paar der heiligen Stätten besuchen kommt, war ihnen Gold wert. Geh nur nicht zu den arabischen Teilen, und was immer du auch tust, geh nicht nach Gaza.

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