Freispruch nach Wiederaufnahmeverfahren: Lehrer saß fünf Jahre im Gefängnis für erfundene Vergewaltigung

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Veröffentlicht: 05:32, 10. Jul. 2011 (CEST)
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Kassel (Deutschland), 10.07.2011 – Damals schien alles klar zu sein: Der Biologielehrer Horst Arnold war schuldig befunden worden, seine 6 Jahre jüngere Kollegin Heidi K. während einer Schulpause vergewaltigt zu haben. Heute sieht alles anders aus: In einem Wiederaufnahmeverfahren wurde Arnold am Dienstag freigesprochen. Auslöser für die Neubewertung waren Recherchen, die das angebliche Vergewaltigungsopfer als chronische Lügnerin entlarvten.

Es war das zweite Verfahren in gleicher Sache, eines der seltenen Wiederaufnahmeverfahren: Die Formalien waren die selben wie zuvor. Wieder musste Horst Arnold auf der Anklagebank Platz nehmen. Doch jetzt endete es mit einem Freispruch - erster Klasse.

Es war an der Georg-August-Zinn-Schule in Reichelsheim. Hier soll der heute 52-jährige Biologie- und Sportlehrer seine Kollegin im Jahr 2001 im Biologie-Vorbereitungsraum gegen einen Tresen gedrängt, geschlagen und anal vergewaltigt haben. Dann soll er versucht haben, sie auch vaginal zu vergewaltigen, dabei sei es ihr gelungen, sich zu befreien und zu flüchten. Dass er stets seine Unschuld beteuerte, nutzte ihm nichts. Seine Version, er habe sie zur Rede gestellt, weil er sie dabei ertappte, wie sie in seinen Unterlagen blätterte, glaubte das Landgericht Darmstadt damals nicht.

Und das, obwohl sie ihn erst Tage später anzeigte. Die Tat soll sich in einer großen Pause abgespielt haben, bei offenen Fenstern. Anschließend hat sie ganz normal Unterricht gehalten. Thema: „Das lyrische Ich“. Später wird sie erzählen, dass sie nur knapp mit dem Leben davongekommen sei.

Als die Polizei mit einem Haftbefehl bei ihm vorbeikam, glaubte er an einen Irrtum, der sich auflösen werde, sagt er. Stattdessen begann ein Alptraum, in dessen Verlauf Horst Arnold mehrere Gefängnisse kennenlernte und eigenen Aussagen zufolge „zwangspsychatrisiert“ wurde.

Dabei hätte er es einfacher haben können. Einen Gruß vom Richter lasse er ausrichten, sagte ihm der Gerichtsgutachter am Beginn der Verhandlung, wenn er gestehen würde, käme er auf Bewährung frei. Doch er blieb stur. Fünf Jahre waren das Ergebnis. Abgesessen bis auf den letzten Tag. Denn nur weil er sich auch im Gefängnis noch weigerte, die Tat einzuräumen, verweigerte man ihm die vorzeitige Entlassung. Als er das Gefängnis verließ lag seine Existenz in Trümmern. Heute lebt Arnold im Saarland. Er ist Hartz-IV-Empfänger und trockener Alkoholiker, sein Haus musste er verkaufen. Egal wie viele Bewerbungen er schrieb - immer scheiterte es am wunden Punkt „Vergewaltigung“.

 Eine pathologische Lügnerin mit Charisma

Sie muss außergewöhnliche charismatische Fähigkeiten besitzen. Bis heute schafft sie es, Menschen für sich einzunehmen. Aber wer Heidi K. länger kannte, merkte fast immer, dass ihre Geschichten nicht stimmen konnten, zu unglaublich war, was sie erzählte.

An vielen ihrer Wirkungsstätten, Schulen in NRW und Hessen, hinterließ sie Chaos, brachte ein ganzes Lehrerkollegium gegen sich auf.

Ins Rollen kam die Sache durch die Schwester des heutigen Anwalts von Horst Arnold. Als Frauenbeauftragte für Lehrer im Odenwald kannte sie Heidi K., betreute sie auch während des Prozesses gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger. Dabei bekam sie vom Prozess wenig mit, denn Heidi K. flüchtete, in Tränen aufgelöst immer wieder aus dem Gerichtssaal, sie hinterher, tröstete das vermeintliche Opfer. Mit dem Urteil war sie damals zufrieden, obwohl sie es als hart empfand.

Erst später fiel ihr auf dass sie Heidi K. einen Tag nach der vorgeblichen Tat auf einem Frauen-Stammtisch gesehen hatte - von schlechter Stimmung war da bei ihr nichts zu bemerken.

Als Frauenbeauftragte hatte sie immer wieder mit Heidi K. zu tun. Als sie später immer mehr Geschichten von ihr erfuhr, die einfach nicht stimmen konnten, plagte sie die Vorstellung, dass auf Grund ihrer Vorwürfe ein Mann fünf Jahre im Gefängnis saß.

Schließlich wandte sie sich an ihren Bruder, einen Berliner Anwalt für Zivilsachen. Der reagierte zuerst skeptisch. Dann vertiefte er sich jedoch in den Fall und fand immer mehr Ungereimtheiten. Nach langen Recherchen reichte er 2008 einen Wiederaufnahmeantrag ein und schaffte 2010 das fast Unmögliche: Die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde zugelassen.

Eine der Geschichten die Heidi K. erzählte, war die eines Lebensgefährten, der bei der Kripo gearbeitet habe. Er soll in einer sehr geheimen Mission einen Terroristensitz in Wiesbaden ausgehoben haben, wobei er einen Kopfschuss erlitten habe und seitdem im Koma läge. Nachdem sich Heidi K. mit logopädischen Übungen um ihn gekümmert habe, habe er wieder Sprechen und Laufen gelernt. Irgendwann erzählte Heidi K. auf Nachfrage dass 'Manfred' gestorben sei. Diese Geschichte gab die Frauenbeauftragte im Zeugenstand am Landgericht Kassel wieder. Besonders erstaunt war sie über die Gelassenheit Heidi K.s. „Sie sagte dies, als hätte sie ihre Handtasche verloren.“ Anderen erzählte sie auch von einem gemeinsamen Skiurlaub mit dem nun offenbar plötzlich Genesenen und gar von Heiratsplänen ihn betreffend.

Von dieser Räuberpistole ließ sich nichts nachweisen. Polizist Manfred war ein lockerer Bekannter von Heidi K. aus einer Skifreizeit und quicklebendig.

Eine andere Sache war die 'Gift-Affäre': Mittlerweile hatte Heidi K. es zur kommissarischen Schulleiterin an einer anderen Schule im Odenwald gebracht. Hier erhob sie gemeinsam mit einer vertrauten Kollegin den Vorwurf, beide seien 'vergiftet' worden. Ohne eine konkrete Tatschilderung schaffte sie es, dieses Gerücht am Kochen zu halten. Von Keksen, Arsen, Tee, Kuchen und Thallium war zu hören. Den Personalratschef der Schule erreichte das Gerücht mit dem Vorwurf, er solle Täter sein, was ihn so aus der Bahn schlug, dass er sich krankschreiben ließ. Einer Kollegin erzählte sie bei einem zufälligen Treffen, ihr seien infolge ihrer Vergiftung alle Haare ausgefallen. Diese Kollegin gab zu Protokoll, dass K. schulterlange Haare hatte. Offenbar hatte niemand einen Haarausfall beobachtet. Die Kollegin gab an, sie habe diese Geschichten schon gar nicht mehr ernst genommen.

Letztlich stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in der Giftsache ein. K. erzählte trotzdem, es gäbe einen Prozess.

Als Konrektorin schaffte K. es aber auch, ein Lehrerkollegium komplett gegen sich aufzubringen. Mit einem strengen PC-gestützten Stundenmanagement verprellte sie engagierte Lehrer einer betont pädagogisch ausgerichteten Schule. Im Sekretariat verschanzte sie sich hinter Bildschirmen und ließ einen Türgriff abschrauben, damit keiner mehr an ihr vorbeikam. Um Forderungen durchzusetzen, soll sie sich häufig auf Erlasse berufen haben, die gar nicht existierten. Eine Dienstbeschwerde, die sie gegen den Schulleiter einreichte, konnte letztlich in fast allen Punkten entkräftet werden.

Hartmut Lierow, der Anwalt von Horst Arnold, hat bei seinen Recherchen eine Fülle von weiteren unwahren Geschichten aus dem Leben von K. zusammengetragen. Demnach könnte man Heidi K. leicht als eine Baronin von Münchhausen bezeichnen, so unglaublich, wie viele ihrer Geschichten waren.
Zu ihrer beruflichen Biografie gehörten vielfach hohe Fehlzeiten, auffallend oft um Wochenenden. Fachlich soll sie immerhin kompetent gewesen sein.

 Hypochondrie, Ehrgeiz, Gier - Heidi K. log sich durch ihr Leben

Hypochondrie kam dazu: Ihrem zweiten Ehemann erzählte sie einmal, sie hätte nur noch 6 Jahre zu leben. Dass Heidi K. es trotz allem beruflich so weit gebracht hat, ist ihrem Ehrgeiz zuzuschreiben. Ob die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Horst Arnold dazu dienen sollten, seinen Posten als Fachbereichsleiter zu übernehmen, bleibt unklar. Sicher ist aber, dass Heidi K. später lukrative Stellen gefordert hat - mit Hinweis auf ihre erlittene Vergewaltigung, quasi als Entschädigung. Auch die angebliche Vergiftung musste dafür herhalten. Materielle Ansprüche waren Heidi K. auch nicht fremd. Zeugenaussagen zufolge pflegte sie einen gehobenen Lebensstil. Designermöbel und schicke Kleider waren ein Muss.

Es war auch nicht das erste Mal, dass Heidi K. anderen sexuelle Übergriffe anhängen wollte. Bereits von ihrem ersten Ehemann soll sie vergewaltigt worden sein. An einer anderen Schule soll sie behauptet haben, ein Lehrer sei in die Mädchendusche gegangen, was nachweislich falsch war. Auch pädophile Lehrer will sie ausgemacht haben, so soll der mit Kopfschuss verwundete Polizist angeblich auch gegen einen Pädophilenring verdeckt ermittelt haben.
Heidi K. hat nachweislich einen Sohn, eine Tochter kam offenbar nur in ihrer Fantasie hinzu.

Als Horst Arnold 2002 von einer Kammer des Landgerichts Darmstadt verurteilt wurde, war von Heidi K.s blühender Fantasie scheinbar wenig bekannt. Man glaubte ihr. Hübsch, eloquent, offenherzig - so wirkte sie auf nicht wenige Menschen. Bei Gericht weinte sie heftig.

Horst A. war damals Alkoholiker. Er musste sogar zugeben, einmal handgreiflich geworden zu sein gegen eine Lebensgefährtin. Unberechenbar soll er gewesen sein, weil oft aufbrausend. Am Vorabend der angeblichen Tat hatte er 2 Flaschen Wein konsumiert. All dies schien sich zu fügen. In beider Aussagen gab es durchaus Widersprüche. So habe sie sich nach dem Geschehen einmal zuerst auf die Toilette geflüchtet, dann sich draußen in Büschen vor ihm versteckt. Hierbei habe sie sich übergeben. Spuren dazu wurden nicht gefunden. Dabei hat die Polizei scheinbar durchaus gründlich ermittelt. So konnte sich das Gericht in Kassel noch jetzt ein Video anschauen von einer kommentierten Ortsbegehung. Für den Fall wurde sogar eine Sonderkommission gebildet. Sie hat ihre Kleidung nach der Tat weggeworfen oder gewaschen. Eine verständliche Reaktion der Scham, wenn man vergewaltigt wird. Aber sie als Biologielehrerin hätte wissen müssen, dass sie Spuren vernichtet. Seine Kleidung wurde beschlagnahmt. Als Arnold dann irgendwann später nachfragte, hieß es platt, man habe sie vernichtet.

Bei einer routinemäßigen Untersuchung von Heidi K. zwei Tage nach der fraglichen Tat fiel nichts auf. Bei einer späteren Untersuchung wurden Verletzungen festgestellt. Dazu eine Analfissur. Diese passte laut untersuchender Ärztin gut zur Aussage von K.

Tage später zeigte K. Arnold erneut an. Er hätte sie auf dem Marktplatz in Michelstadt bedroht. Sie sei geflüchtet. Ihre Eltern waren dabei, identifizierten Arnold später sogar unter jeweils 10 Bildern die man ihnen vorlegte.

Nur saß er da schon in Untersuchungshaft. Man erklärte sich dies als posttraumatische Belastungsstörung.

Damals wurde er verurteilt. Jetzt wurde Horst Arnold am Landgericht Kassel freigesprochen. Sogar der Staatsanwalt plädierte auf Freispruch. Die Anwältin des angeblichen Opfers forderte dagegen die Beibehaltung des ursprünglichen Urteils des Darmstädter Landgerichts aus dem Jahr 2002. Ihrer Argumentation zufolge sind alle Lügengeschichten Folge des bei der Vergewaltigung entstandenen Traumas. Hierzu wollte sie auch einen Gutachter laden lassen, der dies bestätige. Tatsächlich lassen sich chronische Lügen der Nebenklägerin bis weit vor der angeblichen Vergewaltigung nachweisen. So hatte sie einmal eine Klassenfahrt damit abgesagt, in der Jugendherberge sei ein Wasserschaden vorgefallen. Der Herberge gegenüber behauptete sie an der Schule sei Meningitis ausgebrochen. Hierbei fälschte sie auch den Briefkopf der Schule. Eine Freundin des Bruders von Heidi K. soll einmal über sie gesagt haben: „Die lügt sich durch ihr Leben.“

Verteidiger Lierow meinte zu Beginn seines Plädoyers zwar, dass Richter auch Menschen sind, die vor Irrtümern nicht geschützt sind. Aber das Landgericht Darmstadt hätte damals auf dem Weg zum Urteil „rote Ampeln“ überfahren. Ganze 16 solcher roter Ampeln zählte er auf, eklatante Widersprüche im Aussageverhalten der Zeugin Heidi K., darunter auch schon damals erwiesene Lügen.

Das Gericht begründete den folgenden Freispruch dann auch gar nicht überwiegend mit den Erkenntnissen, die man nun über die Nebenklägerin als Hauptbelastungszeugin gewonnen hat. Der Vorsitzende Richter Jürgen Dreyer zerpflückte das damalige Urteil fast so systematisch wie die Verteidigung. Ob andere Gerichte damals unbedingt anders geurteilt hätten, darf bei nüchterner Sicht dahingestellt bleiben. Für den nun Freigesprochenen muss es eine Genugtuung gewesen sein. Der wichtigste Satz im Urteil lautete allerdings: „Wir sehen den Angeklagten als nachweislich unschuldig an.“ Ohne Frage seien 10 Jahre seines Lebens verpfuscht. Das Gericht wünschte ihm für sein weiteres Leben zuletzt alles Gute.

Horst Arnold erklärte anschließend vor Pressevertretern, sein Leben werde sich nicht sofort, aber demnächst rundherum ändern. Man konnte ihm anmerken, wie sehr er sich an die neue Situation gewöhnen muss.

Ohne seinen Anwalt, so sagt er immer wieder, wäre er bis an sein Lebensende ein Vergewaltiger gewesen. In der Tat hat Hartmut Lierow jahrelang für seinen Mandanten gekämpft. Einen solchen Verteidiger findet man selten.

  Anwältin von Heidi K. legt Revision ein

Heidi K. war nur am ersten Prozesstag erschienen. Sie verweigerte ihre Aussage mit Hinweis auf das laufende Ermittlungsverfahren, welches die Staatsanwaltschaft Darmstadt in Händen hält. Lierow hatte dort Anzeige wegen Freiheitsberaubung erstattet.
Mittlerweile hat die Anwältin von Heidi K. Revision eingelegt. Dies verzögert die formale Rehabilitation von Arnold genauso wie mögliche materielle Entschädigungen. Man vermutet, dass sich Heidi K. mit diesem Schritt in die Verjährung retten könnte.
Lierow reagierte darauf mit Unverständnis: „Heidi K. ist für das jahrelange Martyrium meines Mandanten verantwortlich. Jetzt schneidet sie ihm weiterhin den Weg in die berufliche und soziale Rehabilitation ab.“ Er droht nun seinerseits mit zivilrechtlichen Schritten gegen Heidi K.

Horst Arnold(li.) und sein Verteidiger Hartmut Lierow

(itu)


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Quellen

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