20 Jahre nach Tschernobyl: Diskussion um Atomkraft geht weiter
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Tschernobyl (Ukraine), 26.04.2006 – In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 wird im Block IV des Atomkraftwerkes von Tschernobyl ein Sicherheitstest gestartet. Der Bedienungsmannschaft unterläuft dabei ein Fehler. Sie schaltet daraufhin das Sicherheitssystem ab. Sekunden später kommt es zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) in der Geschichte der Atomkraft. Der Reaktor explodiert und setzt radioaktive Stoffe in einer solchen Menge frei, dass ganz Europa die Auswirkungen zu spüren bekommt. Der Name der Stadt Tschernobyl wurde seitdem zum Synonym für die Gefahren der Kernenergie. Die Folgen sind bis heute sichtbar. Die Erinnerung daran ist vielen Menschen noch lebendig, die diese Zeit bewusst erlebt haben. Über die Schlussfolgerungen wird aber noch heute diskutiert.
Während die WHO und die IAEA die Zahl der Toten durch die Katastrophe von Tschernobyl auf etwa 4.000 unter den drei am meisten betroffenen Gruppen (Liquidatoren, Evakuierte und Bewohner der hochkontaminierten Zone) schätzt, kommt Greenpeace auf ganz andere Zahlen. Aufgrund eigener Berechnung kommt die Organisation auf 93.000 zusätzliche Krebstodesfälle. Hinzu kämen noch weitere 270.000 zusätzliche Krebserkrankungen.
Reaktionen in Deutschland
In Deutschland wurde seither kein weiterer Reaktor, der Kernenergie nutzt, ans Netz genommen. Die Diskussion über die Nutzung der Atomkraft geht indes weiter. So plädierte der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus Lippold in einem Interview mit dem Südwestrundfunk im August 2005 für die Verlängerung der Laufzeit deutscher Kernkraftwerke. Der Bundestagsabgeordnete begründete dies mit den Auswirkungen auf die Strompreise, die seiner Meinung nach sonst deutlicher stiegen. Gleichzeitig sollten aber die regenerativen Energien weiter gefördert werden. Beschlusslage der deutschen Bundesregierung ist jedoch: Bis 2021 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet werden.
Die Regierung Kohl zog in der Folge der Ereignisse von Tschernobyl auch eine organisatorische Schlussfolgerung. Erstmals wurde am 6. Juni 1986 für Fragen der Reaktorsicherheit eine eigene Zuständigkeit im Bundeskabinett geschaffen: das „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit“ (BMU). Vorher waren die Fragen des Naturschutzes beim Bundesinnenministerium angesiedelt. Verantwortlicher Minister in diesem Ministerium ist heute Sigmar Gabriel (SPD).
In einem Statement der Bundesregierung zum 20. Jahrestag von Tschernobyl anlässlich einer Tagung, die das Bundesumweltministerium in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin zu diesem Thema veranstaltet, erklärte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD), Tschernobyl sei kein historisches Ereignis, sondern immer noch hochaktuell. Der explodierte Reaktor stelle weiterhin ein Sicherheitsrisiko dar. Der „alte Sarkophag“ – so nennt man die Betonummantelung des alten Reaktorfußes – von 1986 müsse stabilisiert und neu ummantelt werden, weil er brüchig geworden sei. Die Kosten dafür betrügen über eine Milliarde Euro, die wesentlich durch Staaten der Europäischen Union aufgebracht werden. Die Politik forderte er auf, die Lehren aus der Katastrophe zu ziehen. Die Aufgabe der deutschen Energiepolitik umschrieb er mit den Worten, das Ziel müsse sein, „weitgehend unabhängig von fossilen und nuklearen Energieträgern“ zu werden. Als Wege zum Erreichen dieses Ziels nannte er die Steigerung der Effizienz sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Dem Statement des Bundesumweltministers wurde von der Sprecherin für Reaktorsicherheit der FDP-Bundestagsfraktion, Angelika Brunkhorst, widersprochen. „So schrecklich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl“ auch gewesen sei, dürfe sie jedoch nicht zu dazu herhalten, „Angst gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie zu schüren.“ Wegen der Versorgungssicherheit könne Deutschland auf die Kernenergie nicht verzichten.
Der Anteil erneuerbarer Energien, der zurzeit (2005) in Deutschland bei 10,2 Prozent liegt, soll laut Bundesregierung bis 2010 auf 12,5 Prozent und dann weiter bis zum Jahre 2020 auf 20 Prozent ansteigen.
Die Entwicklung in anderen europäischen Ländern und weltweit nach Tschernobyl
Weltweit sind 438 Kernkraftwerke in 31 Ländern in Betrieb (Stand: 2003); 32 Blöcke in zwölf Ländern werden gerade gebaut. Von den in der OECD zusammengeschlossenen Staaten haben zwei Staaten den Ausstieg aus der Kernenergie eingeleitet: Kanada und Schweden. In Kanada wurden jedoch zwei Kernkraftwerke wieder in Betrieb genommen. Die meisten Länder setzten in der Zeit nach Tschernobyl eher auf den weiteren Ausbau der Kernenergie.
OECD-Länder
Laut „Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V.“ (ZVEI) stieg der Anteil von Strom aus Kernenergie in vielen Ländern an. Einige hochentwickelte Länder zeigen eine deutliche Steigerung der Kernenergieproduktion um 25 Prozent: die USA, Großbritannien und Frankreich.
Osteuropa
In Osteuropa sind noch 23 Kernkraftwerke am Netz, darunter vier vom Typ RBMK (russisch für Реактор Большой Мощности Канальный = reaktor balschoi moschnosti kanalnyi), der auch in Tschernobyl verwandt wurde. Diese Reaktoren wie auch die des Druckwasserreaktortyps WWER gelten auch nach Aussage des Auswärtigen Amtes als in hohem Maße gefährlich und „nicht mit wirtschaftlich vertretbaren Mitteln“ nachrüstbar.
Das Internetportal GlobalSecurity.org führt den Reaktortyp RBMK unter dem Stichwort: „Weapons of Mass Destruction (WMD)“ (Massenvernichtungswaffen).
Auf einer Tagung in Zürich zur Sicherheit von kerntechnischen Anlagen und den Lehren aus Tschernobyl sprach ein russischer Experte für Nukleartechnik, Vladimir Kuznetsov. Er bestätigte die Auffassung von der Störanfälligkeit russischer Kernkraftwerke. Die Anlagen seien veraltet und ein Drittel der Kraftwerke befände sich immer noch auf dem technischen Niveau des Reaktortyps von Tschernobyl.
Asien
Südkorea führt die Liste mit einer Steigerung der Energiegewinnung aus Atomkraft um 100 Prozent an, gefolgt von Japan (plus 50 Prozent). Einen starken Ausbau der Kernenergie verzeichnet Indien mit zurzeit acht Atomkraftwerken im Bau. In Nordkorea, der Ukraine und Taiwan befinden sich zurzeit jeweils zwei Kernkraftwerke im Bau.
Kritik von Greenpeace
Auf einer Pressekonferenz in Wien stellte die Umweltschutzorganisation Greenpeace einen „Tschernobyl-Atommüll-Report“ vor. Dem Bericht zufolge sei die Lage in der Ukraine immer noch durch einen sorglosen Umgang mit radioaktiven Abfällen gekennzeichnet. „Innerhalb und außerhalb der Todeszone gibt es 800 ungesicherte Atommülldeponien mit rund 20 Millionen Kubikmeter Abfall“, sagte der Greenpeace-Sprecher Jan van de Putte. Ein weiteres Gefahrenpotential stellten die 22 Quadratkilometer großen Kühlteiche des AKW Tschernobyl dar. Diese seien nur unzureichend gesichert und bedrohten im Falle einer nicht unwahrscheinlichen Havarie die Flüsse Prypjat und Dnjepr. Diese stellten das Hauptwasserreservoir der Ukraine dar.
Greenpeace kritisierte in diesem Zusammenhang die kernenergiefreundliche Haltung der österreichischen Bundesregierung. Die Politik der gegenwärtigen österreichischen Regierung kennzeichnete er als „reine Betroffenheitsrhetorik“, die einem Atomausstieg in Europa nicht förderlich sei.
Hintergrund
Ein lange geplanter und wegen hohen Strombedarfs lange hinausgezögerter Sicherheitstest hatte die Katastrophe eigentlich erst ausgelöst. Der explodierte Block IV des Kraftwerks Tschernobyl war gerade erst (1984) fertig gestellt worden. Dieser Sicherheitstest, der die Kühlung des Reaktorkerns betraf, war bei jedem neu gebauten Reaktor vorgeschrieben gewesen. Doch weil ein anderes Kraftwerk bei Kiew ausgefallen war, sollte der neue Block IV auch ohne den Test die Leistung zur Verfügung stellen. Dies wurde von dem zuständigen Verantwortlichen auch genehmigt. Der Block IV lieferte die nötige Leistung ohne Probleme. Nachdem die Leistung dieses Reaktors nicht mehr benötigt wurde, sollte der noch fällige Sicherheitstest gestartet werden. Dies wurde dann wie geplant von der Nachtschicht begonnen. Dafür musste die Leistung des Reaktors auf 20 Prozent heruntergefahren werden. Dazu werden Regelstäbe, die die Kernreaktion verlangsamen, in den Reaktor abgesenkt. (Das Verlangsamen der Kernreaktion dauert im Vergleich zum Anregen der Kernreaktion sehr lange.) Das Personal auf der Leitwarte hatte, nachdem die Leistung vom Reaktor IV nicht mehr benötigt wurde, die Regelstäbe zu schnell und zu weit in den Reaktor abgesenkt, um möglichst bald den Test durchführen zu können. Die Leistung war dadurch auf nur sieben Prozent abgefallen.
Um möglichst schnell wieder auf die nötigen 20 Prozent zu kommen und um den Test nicht zu beeinflussen, wurde die automatische Sicherheitsabschaltung überbrückt. Die Leistung stieg daraufhin sehr schnell an. Nachdem die Überhitzung des Reaktorkerns bevorstand, gerieten die Verantwortlichen in Panik und lasen im Betriebshandbuch, was in einem solchen Falle zu tun sei. In dem Betriebshandbuch waren einige Textstellen durchgestrichen, was den überforderten Bediener noch mehr verunsicherte. Bei einer telefonischen Rückfrage bei einem Vorgesetzten wurde ihm gesagt, er solle die durchgestrichenen Anweisungen befolgen. Zu diesem Zeitpunkt war es vermutlich schon zu spät, um noch eine Änderung herbeizuführen. Die Leistung stieg innerhalb von Sekunden um einen Faktor von 100 an. Der Reaktorkern war mittlerweile so heiß, dass sich die Kanäle für die Regelstäbe unter der enormen Hitze so verformten, dass die Regelstäbe wegen Verkantung nicht in den Reaktor zurückfallen konnten. (Selbst bei einem totalen Stromausfall würden unter normalen Bedingungen die Regelstäbe automatisch durch ihr Eigengewicht in den Reaktor fallen und ihn damit sicher stoppen.) Durch die Hitze wurde das Wasser im Reaktor explosionsartig verdampft, und es entstand außerdem noch gefährliches Knallgas. Dabei wurde das Hallendach des Reaktorgebäudes, welches aus über 1000 Tonnen Stahlbeton bestand, abgesprengt. Die Kernschmelze hatte begonnen. Durch bewusste Fehl- und Nichtinformation der Bevölkerung durch die damalige sowjetische Führung wurde der Schaden an der Bevölkerung noch verschlimmert.
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Informationen zum Thema bei Wikipedia
Quellen
- Deutschlandradio Online: „Tschernobyl – Die Reaktorkatastrophe und ihre Folgen“ (25.04.2006)
- REGIERUNGonline: „Gabriel: Tschernobyl bleibt aktuell“ (25.04.2006) Quelle nicht mehr online verfügbar
- REGIERUNGonline: „Energieverbrauch und -versorgung in Deutschland und Europa“ (25.04.2006) Quelle nicht mehr online verfügbar
- heute.de: „Vom GAU zum Atomausstieg“ (25.04.2006)
- CDU/CSU-Fraktion Online: „Regenerative Energien weiter fördern – längere Laufzeit bei Kernkraftwerken“ (10.08.2005) Quelle nicht mehr online verfügbar
- Auswärtiges Amt Online: „Reaktorsicherheit, speziell in Mittel- und Osteuropa“ (Stand Januar 2006) Quelle nicht mehr online verfügbar
- reyl.de: „Kernkraftwerke in Osteuropa“ (private Website) (25.04.2006)
- Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. Online: „Außenwirtschaft / Elektroindustrie“ (abgerufen am 25.04.2006)
- FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag: „BRUNKHORST: Tschernobyl nicht als Angstszenario gegen Kernkraft missbrauchen“ (Pressemitteilung) (25.04.2006) Quelle nicht mehr online verfügbar
- GlobalSecurity.org: „Weapons of Mass Destruction (WMD)“ () (abgerufen am 25.04.2006)
- sda via zisch.ch: „Tschernobyl - Atomkraft-Gegner und Befürworter präsentieren Lehren“ (25.04.2006, 16:59 Uhr MEZ)
- Oekonews.de: „Neuer Greenpeace-Report über Tschernobyl enthüllt Atommüll-Desaster in der Ukraine“ (25.04.2006)
- aerzteblatt.de: „20 Jahre Tschernobyl: Divergierende Schadensschätzungen von WHO und Greenpeace“ (25.04.2006) Quelle nicht mehr online verfügbar
- news.bbc.co.uk: „The Chernobyl disaster“ () (25.04.2006)
- Artikelstatus: Fertig
- Tschernobyl
- 26.04.2006
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