Gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Tibet befürchtet

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Veröffentlicht: 19:27, 17. Mär. 2008 (CET)
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Lage der tibetischen Provinzhauptstadt Lhasa

Lhasa (Volksrepublik China), 17.03.2008 – Mit wachsender Besorgnis reagierte heute die internationale Öffentlichkeit auf die Eskalation der Lage in Tibet. Während sich die Proteste der nicht-chinesischen Bevölkerung gegen die Vormacht der chinesischen Zentralregierung ausweiteten, verdichten sich die Anzeichen, dass die chinesische Regierung eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste vorbereitet. Ausländer und Angehörige von Hilfsorganisationen wurden gestern nach Angaben eines Mitarbeiters einer europäischen Nichtregierungsorganisation (NGO) gegenüber dem „Tagesspiegel“ von den Behörden angewiesen, die tibetische Hauptstadt Lhasa bis spätestens Montag zu verlassen. Der Präsident der autonomen Region Tibet, Qiangba Puncog, wies jedoch die Darstellung zurück, die Ausländer seien zum Verlassen des Landes gezwungen worden. Ausländern sei angesichts der angespannten Sicherheitslage lediglich abgeraten worden, jetzt nach Tibet zu reisen. In einer von der amtlichen Nachrichtenagentur verbreiteten Erklärung Puncogs gab er an, die Lage in Lhasa sei unter Kontrolle. Einer Meldung von Xinhua zufolge sei am Montag der Schulunterricht wieder aufgenommen worden. Der Aufruhr sei Ergebnis einer Konspiration von Anhängern des Dalai Lama gewesen.

Die Proteste weiteten sich heute auf die an das tibetische Kerngebiet angrenzenden Regionen, die Provinzen Gansu, Sichuan und Qinghai, aus. In der Provinzhauptstadt von Gansu, Lanzhou, seien einige hundert Studenten in einen Sitzstreik getreten. Die „Kampagne für ein Freies Tibet“ berichtete über einen Marsch von 300 bis 400 Tibetern in Machu in der Provinz Gansu zu den Regierungsgebäuden. Die Demonstranten sollen Bildnisse des im indischen Exil lebenden geistlichen Oberhaupts Tibets, des Dalai Lama, mit sich geführt haben. Dabei seien die Geschäfte von Chinesen angegriffen worden, ihre Scheiben eingeschlagen und die Türen eingetreten worden. Am Sonntag begannen die chinesischen Sicherheitskräfte mit Razzien in der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Dabei sollen vor allem junge Tibeter verhaftet worden sein. Auch bereits wieder freigelassene Demonstranten seien erneut inhaftiert worden. Die Zahl der Verhaftungen soll einige hundert betragen.

Der Vorsitzende der tibetischen Regionalregierung bestritt nach Angaben der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua den Einsatz von tödlichen Waffen gegen Demonstranten während der vergangenen Woche. Das tibetische Exilparlament im indischen Dharamshala erklärte heute hingegen, bei den Unruhen der vergangenen Tage in Lhasa und benachbarten Provinzen seien mehrere hundert Menschen getötet worden.

Am Samstag sollen tausende Demonstranten durch die tibetische Hauptstadt gezogen sein. Nicht näher genannten Quellen zufolge handelt es sich laut „Tagesspiegel“ bei den Demonstranten vor allem um Jugendliche und sogar Kinder. Dabei seien von den Demonstranten auch Feuer gelegt und Schaufenster eingeworfen worden.

Durch die Unruhen der letzten Woche soll laut der chinesischen Presseagentur Xinhua auch die Stromversorgung in Lhasa in Mitleidenschaft gezogen worden sein. In den letzten drei Tagen hätten Fachkräfte des Stromversorgers den Schaden jedoch wieder behoben, so dass am Montag die Stromversorgung wieder aufgenommen worden sei.

Die Zahl der Menschen, die durch die Unruhen am Freitag getötet worden sein sollen, bezifferte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua heute mit 13. Die Getöteten, vor allem chinesische Zivilisten, seien verbrannt oder erstochen worden. Die Lokalregierung machte dafür die Aufständischen selbst verantwortlich. Bei den Polizeieinsätzen seien 61 Polizisten verletzt worden, darunter sechs schwer. Die Anzahl der zerstörten Geschäfte wurde mit 214 angegeben. Außerdem seien 56 Fahrzeuge in Brand gesteckt oder zerstört worden. Die Agentur bestätigte die Meldung, dass am vergangenen Montag, den 10. März rund 300 Mönche vom Kloster Zhaibung in das Stadtzentrum von Lhasa gezogen sind. Die tibetischen Mönche, die sich an den Demonstrationen beteiligt hatten, beschrieb die Nachrichtenagentur unter Berufung auf Erklärungen des Vorsitzenden der Provinzregierung, Qiangba Puncog, als „aggressiv“ und „herausfordernd“ gegenüber den chinesischen Sicherheitskräften. In den anderen Teilen Tibets und in den Nachbarprovinzen sind laut Augenzeugen mit Sicherheit weit mehr Menschen umgekommen, hier vor allem tibetische Mönche, die dort zu Tausenden demonstrierten.

Wegen der Berichte von Ausländern in Tibet, sie seien zum Verlassen der Region aufgefordert worden, wachsen Befürchtungen, die chinesische Regierung könnte zu noch größerer Gewalt greifen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Am Wochenende hatten die chinesischen Behörden den aufständischen Demonstranten eine Frist bis Mitternacht am Montag gesetzt, sich den Behörden zu stellen. Daraus wurde von Beobachtern der Schluss gezogen, es könnte eine größere Polizei- und Militäraktion bevorstehen. Die staatlich kontrollierten chinesischen Medien hatten am Wochenende von der Notwendigkeit eines „Volkskrieges“ gegen die Aufrührer in Tibet gesprochen. Wie die Presseagentur AFP berichtet, habe sich ein Bewohner aus Lhasa telefonisch gegenüber AFP dahingehend geäußert, Panzer seien auf den Straßen zu sehen gewesen. Besorgt äußerte sich auch der Vorstandsvorsitzende der Tibet Initiative Deutschland, Wolfgang Grader, zu den Vorgängen in Tibet: „Wir befürchten das Schlimmste“, sagte er gegenüber Deutschlandradio. „Es sind jetzt massive Polizei- und Militäreinheiten in Lhasa und es wird sicher eine Durchsuchung von Haus zu Haus geben. Da werden sie alles versuchen zu finden, was verdächtig ist wie Bilder des Dalai Lama und tibetische Flaggen.“ Er erwarte Massenverhaftungen in den nächsten Tagen.

Mit der Vorbereitung eines geplanten gewaltsamen Vorgehens gegen die anti-chinesischen Proteste könnten auch Maßnahmen der chinesischen Regierung in Zusammenhang stehen, die eine unabhängige Berichterstattung über die Lage in der Region erschweren sollen. Wie „heise online“ berichtet, sperrten chinesische Behörden den Internetzugang zu „YouTube“. Dieser war genutzt worden, um Videos über die Lage in Tibet über das Internet zu verbreiten.

In Nepal lebende Tibeter protestierten in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu gegen die Vorherrschaft der chinesischen Zentralregierung über Tibet. Unter den etwa hundert Menschen befanden sich auch tibetische Mönche. Polizeikräfte gingen gewaltsam mit Schlagstöcken aus Bambus gegen die Demonstranten vor. Etwa 30 Menschen sollen dabei verletzt worden sein.

US-Außenministerin Condoleezza Rice forderte China zur Aufnahme eines Dialogs mit dem im Exil lebenden Dalai Lama auf. Dieser sei eine Autoritätsperson, die zur Lösung der Probleme beitragen könne. Das russische Außenministerium erklärte, ein solcher Dialog sei eine „innere Angelegenheit“ Chinas. Das Ministerium wandte sich außerdem gegen Versuche, die bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking zu politisieren.

Weltweit haben die Berichte über die Situation in Tibet zu einer Diskussion über einen möglichen Boykott der Olympischen Spiele in Peking geführt. Inzwischen haben sich der Dalai Lama und die Sportminister der Europäischen Union gegen einen Olympia-Boykott ausgesprochen.

Auch das IOC lehnt einen Olympiaboykott ab. Christoph Müller-Hofstede, China-Experte bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, erwartet jedoch einen steigenden Druck auf die Veranstalter der Olympischen Spiele. Steven Spielberg war vor einigen Wochen als künstlerischer Berater für die Eröffnungsfeier wegen der Unterstützung Chinas für den Feldzug der sudanesischen Regierung gegen die schwarzafrikanische Bevölkerung im eigenen Land zurückgetreten. „Es gibt Menschenrechts-Lobbyorganisationen in den USA mit Richard Gere oder Mia Farrow, die massiven Druck schon auf einzelne Personen“ wie Spielberg ausübten. Er erwartet, dass bald auch die Sponsoren der Olympischen Spiele zunehmend unter Druck geraten werden. Die Strategie der chinesischen Führung, die Olympischen Spiele zu nutzen, um zu demonstrieren, wie weltoffen und modern China geworden sei, sei angesichts der aktuellen Entwicklung in Frage gestellt.

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Quellen